Tod in Moskau

Ein Land zwischen Kosmos und Krebs

Anfang dieses Jahres, zwei Monate nach dem Tod meines Vaters, schoss sich in Moskau ein pensionierter Admiral in den Kopf. Wie mein Vater war er krebskrank. »Niemand ist schuld an meinem Tod außer dem Gesundheitsministerium und der Regierung«, stand auf dem Zettel den er hinterließ. Am Tag vor dem Selbstmord hatte die Gattin des Admirals vergeblich versucht, Morphin-Ampullen für ihn zu bekommen. Morphin ist das wirksamste Schmerzmittel, das verabreicht wird, wenn nichts anderes mehr hilft.

Als ich von der Krebsdiagnose meines Vaters erfuhr, erfasste mich noch vor der Trauer Panik. Davor, dass er würde leiden müssen. Der russische Staat behandelt Schmerzmedikamente wie verbotene Drogen. Wer das Verbot ignoriert, ob Arzt, Patient oder Angehöriger, bekommt als Drogendealer acht Jahre Lagerhaft. Nur einer von zehn Krebstoten in Russland darf schmerzfrei sterben. Als unlängst einer ehemaligen KZ-Insassin Schmerzmittel verweigert wurden, sagte der Arzt zu ihren Verwandten: »Wenn sie Auschwitz überlebt hat, wird sie auch die kommende Nacht überstehen.« Dabei sind Schmerzmittel vorhanden und preiswert. Doch die Ärzte haben Angst vor der Drogenpolizei. Einige machen sich auch die althergebrachte Einstellung des russischen Staates zu eigen: Der Untertan muss leiden. In der Sowjetunion waren Abtreibungen oder Zahnbehandlungen ohne Betäubung die Norm. Um der staatlich verordneten Tortur zu entgehen, besorgen sich einige heute Heroin bei echten Drogendealern, oder sie fliehen in den Freitod.

Der krebskranke Admiral hatte die Produktion von Interkontinentalraketen beaufsichtigt und saß nach seiner Pensionierung im Vorstand einer Bank. Er war Angehöriger der Staatselite, gewissermaßen die Personifikation dieses Staates. Zugleich war er ihm hilflos ausgeliefert. Über Schmerzpatienten, die sich umbringen, bemerkte ein zuständiger Beamter: »Das ist ihre persönliche Art von Euthanasie.«

Als mein Vater nur noch Wochen zu leben hatte, flog ich nach Moskau. Er brauchte Morphin. Der behandelnde Arzt verstand das, er durfte aber keine solchen »Rauschmittel« verschreiben. Ich bekam einen Zettel mit Stempel und zwei Unterschriften, der mir, wie der Arzt meinte, in der nächsten Instanz helfen würde. Für meinen Vater stand außer Zweifel, warum der Staat ihn und andere Mitbürger leiden lässt. Dieser menschenfeindliche Staat hatte für ihn ein Gesicht. Kleine Augen, zerfurchte Haut, einen Schnauzer, den der Dichter Ossip Mandelstam »Kakerlakenbart« nannte, und eine Pfeife im Mundwinkel: Josef Stalin. Als mein Vater noch nicht ein Jahr alt war, hatte Stalin seinen Großvater erschießen lassen. Mein Vater wuchs auf mit dem Stempel FMVF - Familienmitglied eines Volksfeindes. Sein Leben lang musste er mit dem Staat ringen, zuerst um ein würdiges Leben, dann um ein würdiges Sterben.

Ich fuhr zur nächsten Instanz, die starke Schmerzmittel verschreiben konnte, dem Bezirks-Onkologen. Der Medizinbeamte hatte einen sehr kurz geschorenen Schädel und ein goldenes Kettchen um den dicken Hals. Ein Boxer oder einer von den Herren des Lebens, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunoon überall das Heft in die Hand genommen hatten, erst als kleine Banditen, dann als kleine Polizisten und kleine Beamten. Er weigerte sich, etwas zu verschreiben, ohne sich selbst davon überzeugt zu haben, dass der Patient tatsächlich Schmerzen leidet. Es war derselbe junge Mann, der auch dem Admiral das Morphin verweigerte. Nächste Woche würde er vorbeischauen. Als ich drängte, weil mein Vater starke Schmerzen habe, schnitt er mir das Wort ab: »Hier haben alle Schmerzen!«

So lautet das russische Herrschaftsprinzip. Mein Vater versuchte, mit dem Regime so wenig wie möglich in Berührung zu kommen. Einmal bekam er ein Angebot, das man kaum ablehnen konnte. Er sollte in die Staatspartei eintreten. Mein Vater antwortete: »Verpisst euch!« Das Ende seiner Karriere nahm er in Kauf, fortan arbeitete er als schlechtbezahlter Ingenieur. Mein Vater versuchte, die Utopie zu leben, er wagte die Unmöglichkeit, frei zu sein in einem totalitären Staat, dessen Metastasen in jede Zelle der Gesellschaft hineinwuchsen. Er hätte gern eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen, aber Kunst und Film waren wichtig für die Staatspropaganda und Volksfeinden verschlossen. Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, war mein Vater Mitte fünfzig. Endlich konnte er sich seinem Lebenstraum widmen, schrieb Kunstkritiken, kuratierte Ausstellungen und wurde Vorstand eines Vereins von Kunstwissenschaftlern. Putins wieder erstarkter Staat konnte ihm nichts antun, bis er im Sterben lag.

Schließlich verschrieb der Onkologe meinem Vater die kleinstmögliche Dosis. In den Formularen, die ich unterschreiben musste, wurde mir bei Missbrauch mit Strafverfolgung gedroht. Es folgten Unterschriften, Stempel, und ich wurde ins dritte Krankenhaus geschickt. Dort gab es noch drei Stempel und Unterschriften von der Oberschwester und der Buchhaltung. Beschleunigen konnte man nichts. Alle sagten nur: »Wollen Sie mich in den Knast bringen?« Als ich endlich alle Stempel für das Morphin hatte, fuhr ich zu einer Sonderapotheke. Die Betäubungspflaster, die ich dort bekam, müsse ich nach Gebrauch bei der zuständigen Stelle abgeben, schärfte mir die Apothekerin ein.

Es gab in Russland immer Menschen, die den Staat wie einen Tumor behandeln oder ganz entfernen wollten. Je bösartiger der Staat, desto vehementer war der Drang nach Heilung, der Traum von der Befreiung vom Leid. Unter diesen Umstürzlern und Utopisten gab es einen unscheinbaren Bibliothekar, der zu Leo Tolstois Zeit in Moskau lebte und viel radikaler als alle Tolstois, Bakunins und Lenins war. Nikolaj Fjodorow, so hieß er, nannte den Zarenstaat eine »todbringende Kraft«. Gleichzeitig glaubte Fjodorow, dass nur die Autokratie in der Lage sei, die wichtigste Aufgabe der Menschheit zu verwirklichen: den Tod abzuschaffen.

Meines Vaters Schmerzen wurden bald so stark, dass die niedrigdosierten Pflaster verbraucht waren. Doch ein neuer Gang durch die Behörden war nicht nötig. Mein Vater starb.

 

Der Tod ist überall gleich, unterschiedlich ist das Sterben. Sogar in vielen der ärmsten Länder der Welt ist die palliative Medizin weiter fortgeschritten als im ölreichen Russland. Für Nikolaj Fjodorow wäre freilich selbst ein solcher Fortschritt zu wenig gewesen. Kein moralischer Mensch könne sich damit abfinden, dass unsere Ahnen tot sind, meint er. Also stünden wir vor der Wahl, entweder den Gestorbenen ihr Leben zurückzugeben oder selbst zu sterben. Fjodorow hat der russischen Revolution und der Avantgarde vorgemacht, das Unmögliche zu wagen.

Die Menschen würden nur dann Brüder, lehrte der rebellische Schüler der Aufklärung, wenn sie für ein gemeinsames Projekt zusammenfänden. Als Erstes müsse man die »technologischen, sozialen und politischen Bedingungen schaffen, die es ermöglichen würden, alle Menschen, die je gelebt haben, auf technische, künstliche weise wiederauferstehen zu lassen«. Dazu würde man aus der Rinde unseres Planeten alle Atome und Moleküle bergen, aus denen die Körper unserer Ahnen einst bestanden. Auch ihr Geist solle durch historische Forschungen wiederbelebt werden. Die Millionen und Abermillionen von Ahnen und Nachkommen, die sich dann endlich umschlingen würden, wären aber zu viele für unsere Erde. Daher stellt Fjodorow der verbrüderten Menschheit als dritte Aufgabe, den Kosmos zu erschließen.

Viele Zeitgenossen hielten den Begründer der Philosophie des russischen Kosmismus für einen heiligen Narren. Fjodorow gab sein Geld für Bücher aus, er besaß nie einen Wintermantel und starb an der Folgen einer Erkältung. Er wäre bestürzt gewesen über die Kondolenz-SMS, die mir ein deutscher Schriftsteller schickte: Es sei schon verrückt, dass das Natürlichste im Leben so traurig ist! Fjodorow weigerte sich, das Natürliche zu akzeptieren. Mit meinem Bekannten haben wir dann lange geredet, auch er hatte seinen Vater an den Krebs verloren, auch ihn ließ der Verlust nicht los. Darüber zu reden half. Es hilft, darüber zu schreiben, doch für Fjodorow wäre das viel zu wenig, ja viel zu feige gewesen. Er sah auch wenig Sinn darin, die despotische Regierungsform zu demokratisieren. Der Zar war für Fjodorow als Gegner zu klein, sein Gegner war der Tod.

Heute will dieser Staat sich jedes Toten sogleich bemächtigen. Nur Stunden nach Vaters Tod kam ein Arzthelfer, ein junger Mann in blauer Uniform mit langen Haaren und Hornbrille. Ich solle die Pflaster abnehmen und zur Medizinbehörde zurückbringen, mahnte er. Sonst würde ich im Knast landen. Dann klingelte die Polizei an der Tür.

 

Wie kann einer weiterleben, dessen Vater gestorben ist? fragte Fjodorow. Mein Vater starb vier Monate vor Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Der hätte ihn nicht überrascht. Als ich dreizehn war, erzählte mir Vater zum ersten Mal, in was für einem Staat wir leben. »Übertreibe bitte nicht«, erwiderte ich wie ein Erwachsener, und als ich erwachsen wurde, sagte ich ihm das oft wieder. Mein Vater nahm nie an der Protestbewegung sowjetischer Dissidenten teil, obwohl er viele von ihnen kannte. »Ich führe keinen Krieg mit einem Atomstaat«, sagte er. Auswandern wollte mein Vater dennoch nicht. Er lebte ja nicht im Russland Stalins, Breschnews, Putins. Seine Heimat war das Russland von Nikolaj Fjodorow.

Dieses Russland kann genauso radikal sein, wie sein Regime absolutistisch ist. Fjodorows Nachfolger setzten seine Visionen nach und nach in die Praxis um, bis die ersten Weltraumraketen Sputniks und Kosmonauten ins All brachten. Fjodorows Russland ist gelebte Utopie. Wenn Stalin oder Putin von Raketen träumten, dann von Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen. Die Kremlherrscher waren für meinen Vater immer nur »Ganoven«. Er nannte sie nie bei ihren Namen, so wie man das Wort Krebs nicht ausspricht.

Ein Polizeibeamter, der kam, um meinen toten Vater zu begutachten, hob nur kurz die Decke über dem kalt werdenden Körper an und betrachtete lange die übermannshohen Bücherregale. Dann setzte er sich an den Küchentisch und arbeitete sich durch einen Stapel Unterlagen, der sich während der Krankheit meines Vaters angesammelt hatte. Der Polizist sagte bestimmt eine halbe Stunde lang kein Wort, anscheinend waren die Papiere in Ordnung. Er holte frische Vordrucke und füllte sie mit Kinderschrift aus, langsam und mit starkem Druck wegen der Durchschreibkopie. „Haben Sie schon die Leichenabfuhr gerufen?“, fragte der Polizist. Das klang aus seinem Mund wie Müllabfuhr.

Es kamen zwei Sanitäter, um die Leiche meines Vaters abzuholen. Das für ihn vorgesehene Leichenhaus lag in einer entfernten Vorstadt, es war nicht möglich, ihn in ein näheres zu bringen oder ihn auch nur einen Tag zu Hause zu behalten. »Haben Sie die Pflaster abgenommen?« fragte mich der ältere der beiden Sanitäter, der nett sein wollte. Dann packten sie Vater in einen schwarzen Sack wie ein Verkehrsunfallopfer und schafften ihn fort. Als sie sich draußen vor dem Haus unbeobachtet glaubten, schleiften sie den Körper wie einen Kartoffelsack über den Asphalt. Der Staat holte den Staatsfeind am Ende ein. Und sein Land lebt weiter zwischen Kosmos und Krebs.

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© Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. August 2014 

Published on  December 9th, 2017

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