Katjas Krieg

Autorenfassaung

Der Deutsche schlägt Tante Katja mit dem Gewehrkolben so hart gegen die Brust, dass dort trotz des dicken Uniformmantels für immer eine Narbe bleibt. Katja greift nach ihrer Waffe, andere Soldatinnen auch, irgendwie überwältigen sie die Wehrmachtsmänner und kehren zurück zu ihrem Stützpunkt. Dort musste Katja ein Glas puren Alkohol trinken, damals die Universalmedizin gegen Schock und Unterkühlung. Diese Geschichte erzählte mein Vater, Katja sprach mit mir nie über den Krieg, der bis heute ein „Großer“ und „Vaterländischer“ für fast alle bleibt, die in der Sowjetunion und Russland aufgewachsen sind.

 

Töte den Deutschen

Gut, dass niemand mein Gesicht sieht, wenn ich dieses Lied auf YouTube anklicke: Kein Vogel singt / kein Baum wächst hier / und nur wir allein / Schulter an Schulter / wachsen in die Erde hinein. Auch ich, jetzt, an meinem Schreibtisch in Berlin, spüre einen Sog – zusammen mit Kameraden, die ich gar nicht habe, für unsere Heimaterde zu kämpfen und zu sterben.

Als Jugendlicher habe ich mir einmal überlegt, in einen Krieg zu ziehen. Damals hatte mein Geburtsland gerade Afghanistan überfallen, ich wartete auf meine Einberufung, und ich dachte: Wenn ich meinen Wehrdienst im Inland ableisten muss, werden mich die anderen Soldaten wahrscheinlich zu Tode prügeln. Das war damals nicht ungewöhnlich. In Afghanistan hingegen würde ich einer von denen sein, die Schulter an Schulter gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen. Das Schlimmste, was mir dort passieren konnte: Ich würde „fallen“ wie dieser Ljonka aus einem anderen Kriegslied, den seine ganze Nachbarschaft vermisste.

Nach drei Jahrzehnten in Deutschland, nach zehn Jahren russischen Mordens in der Ukraine läuft in mir ein alter Algorithmus ab. All meinen Überzeugungen zum Trotz spüre ich den Hauch einer bitteren Lust, im Krieg zu fallen. Sehnsucht liegt darin, ein wenig Selbstmitleid und vor allem diese reine Seligkeit, im Großen und Heiligen aufzugehen. Ein Gefühl, mit dem man auf den Auslöser am Sprengstoffgürtel drückt, oder einen Deutschen tötet, bevor man fällt.

Wie ist mir das passiert? Ich höre meine Mutter das Gutenachtlied singen, Dunkelste Nacht, nur das Pfeifen der Kugeln von fern. Ich sehe einen Kriegsveteranen, der mit seiner Harmonika am Brunnen sitzt und Dein bescheidenes blaues Tuch singt, die russische Lili Marlen. Ich höre mich, obwohl ich kaum einen Ton treffe, mit Schulfreunden sowjetische Lieder zur Gitarre singen, und später, als es die Sowjetunion nicht mehr gibt, singe ich sie ohne Gitarre mit meinen Freunden in Berlin.

Ich bin wie der Pawlowsche Hund, nur fließen bei mir statt Speichel Tränen, die Fäuste ballen sich. Generationen der kreativsten Menschen meines Geburtslandes haben zu diesem Reflex beigesteuert. Er ist wirksamer als alle Befehle eines Führers oder Predigers, und heute spüre ich, wie Millionen andere, in mir diesen Impuls, die Sehnsucht, in einem heiligen Krieg zu sterben – und „die Deutschen zu töten“. Oder die US-Amerikaner, die bald nach dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschen wurden, und ich erinnere mich, wie später die Afghanen ins Fadenkreuz gerieten, dann die Tschetschenen. Heute können die Deutschen aus ganz verschiedenen Ländern kommen, es können Ukrainer oder Letten sein. Die Bürger der Bundesrepublik sind für Russland gerade keine Deutschen, noch nicht.

 

Katjas Frieden

Als Kind habe ich nicht geglaubt, dass Katja im Krieg gewesen war. Im Kindergarten lernten wir über Helden, die gegen die deutschen Faschisten gekämpft hatten, und meine Großtante war anders. Ich erinnere mich, dass sie sich nur mäßig für meine Spielzeugwaffen interessierte, und gar nicht für mein schönes rotes Plastikschwert, definitiv keine Kriegsheldin.

Bei uns wusste jedes Kind, wie alles begann. Ein herrlicher Junitag, die Kinder angeln am Fluss, die Mütter in strahlend weißen Kleidern waschen die Wäsche. Eine schwarze Bombe fällt, eine Angelrute bleibt im Ufergras liegen, und die Väter ziehen in den Krieg. Diese ikonischen Bilder des "hinterlistigen deutschen Überfalls" kenne ich aus meinem ABC-Buch, aus Zeichentrickfilmen, Postern, Liedern. Tante Katja erzählte, dass sie damals freiwillig an die Front ging. Aber der Frieden war für sie lange vorher vorbei, spätestens seit der Nacht, als es an der Wohnungstür geklingelt hatte und Stalins NKWD ihren Vater abführten. Katja war damals 16 Jahre alt, und in ihrer Akte standen seitdem die vier Buchstaben FMVF, Familienmitglied eines Volksfeindes.

Die Fenster im Souterrain der sowjetischen Häuser sind meist vergittert, oft ziehen sich die Gitter entlang ganzer Straßenzüge, und eine Freundin von Katja erzählte mir, dass sie als Kind dachte, dahinter, im Keller eines jeden Hauses, befänden sich Gefängnisse. „Niemand von uns hatte eine glückliche Kindheit“, sagte sie, „Katja ging zur Armee, um sich von ihrem Makel reinzuwaschen“, den vier Buchstaben.

Katja war die einzige Freiwillige ihres Jahrgangs an der biologischen Fakultät, obwohl ich gelernt habe, dass damals das ganze Volk „vom Geist der Einheit erfüllt“ in den Krieg zog. Auch an der Front sah es anders aus, als die Wochenschau damals zeigte. Nach dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 flohen sowjetische Soldaten zu Hunderttausenden, das weiß man heute, oder sie ergaben sich. Viele wollten Stalins Terrorstaat nicht verteidigen und begannen erst zu kämpfen, als die deutschen Massenmorde an Kriegsgefangenen und in den besetzten Gebieten bekannt wurden.

 

Katjas Krieg

Katja blieb all die Kriegsjahre im niedrigsten Dienstgrad, war Lastwagenfahrerin, Schreiberin, Telefonistin. Einmal erfror sie fast, als der Motor ihres Lastwagens ausfiel, einmal geriet sie in eine Motorradpatrouille der Wehrmacht und wurde fast erschossen. In beiden Fällen wurde sie mit reinem Alkohol behandelt. Wenn ich heute ihre auf Tonband gesprochenen Erinnerungen höre, geht es vor allem um solche Details. Ihr Vorgesetzter musste Katjas zusammengebissene Zähne auseinanderdrücken, um ihr das hochprozentige Ethanol in den Mund zu schütten. Katja spürte ein Brennen im Hals, dann nichts mehr, sie schlief zweieinhalb Tage durch. Ich habe mir die Aufnahme zweimal angehört, um sicher zu sein: Die Wehrmachtspatrouille erwähnt Katja mit keinem Wort. Die Deutschen waren damals amüsiert, als sie sahen, dass die Lastwagen, die sie anhielten, von Frauen gefahren wurden. Das weiß ich von Katjas Freundinnen. Die Wehrmachtsmänner haben nicht gleich geschossen, vielleicht wollten sie die Frauen gefangen nehmen oder vergewaltigen oder beides, das hat Katja nicht erzählt.

Wenn Katja in ihren Kriegserinnerungen von Lebensgefahr spricht, dann sind es fast immer die eigenen Leute, die für sie und ihre Kameradinnen gefährlich sind. Für Lisa, die mit dem schönen langen dicken Zopf. Lisa konnte gut mit Zahlen umgehen, wurde Schreiberin in der Versorgungseinheit, und einmal stieß sie auf gefälschte Zahlen. Lisa stellte ihre Vorgesetzten zur Rede und wurde selbst verhaftet, angeblich, weil Zöpfe wie der ihre nicht erlaubt waren. Lisa weigerte sich, den Zopf abzuschneiden, kam vor das Tribunal und in den Strafbat, das sowjetische Pendant zur Bewährungseinheit der Wehrmacht. Das war ein Gulag an der Front, von zehn Soldaten überlebten zwei. Dort blieb Lisa aber nicht lange. Wofür wurdest du bestraft, fragte man Lisa dort. - Für meinen Zopf. Lisa wurde zu ihrer Truppe zurückgeschickt und von dort auf eine Wetterstation, immer noch mit ihrem schönen Zopf, aber weit weg von gefälschten Abrechnungen.

Heinrich Bölls Kriegsprosa gilt bis heute als unheroisch, doch im Vergleich zu Katjas Erinnerungen klingt sie wie das Nibelungenlied. Die Nazis hatten ihre Helden als übermenschlich dargestellt, die Sowjetunion setzte auf menschliche Helden, fast wie bei Böll. Trotz seiner offenen Unterstützung für sowjetische Regimegegner durfte Böll bei uns in Millionenauflage erscheinen, ich habe ihn damals auf Russisch gelesen und in seinen Figuren die sowjetischen Filmhelden wiedererkannt. Die durften sogar ein bisschen feige sein, aber dann sprangen sie aus den Schützengräben, riefen "Für das Vaterland, für Stalin, Hurra" und stürmten auf die deutschen Stellungen zu. Schon während des Krieges mussten die sowjetischen Soldaten solche Geschichten im Roter Stern lesen. Katja erzählte, dass ihre Politoffiziere nach jedem Angriff die Überlebenden fragten: "Habt ihr wieder nicht gerufen?“ Sie selbst hatten es nicht gehört, so nah an den Feind trauten sich Katjas Kommissare nicht ran.

Katja verbrachte den Krieg im 169. Flugfeldversorgungsbataillon. Sie saß nie in einem Schützengraben, musste nie auf deutsche Stellungen zulaufen. Sie hatte nie die sogenannten Sperreinheiten im Rücken, die auf die eigenen Soldaten schossen, wenn diese vor dem Feind zurückwichen. Katja war Zeugin deutscher Gewalt gegen ihre Landsleute, und sie war der Gewalt ihrer Vorgesetzten ausgesetzt. Aber sie gab diese Gewalt nicht weiter – so erzählte sie es – an die deutschen Zivilisten, an Frauen und Kinder des Kriegsgegners, sein Hab und Gut. Andere Soldaten brachten Säcke mit geraubten Trophäen aus dem reichen Europa zurück, Katja nur ihre Schreibutensilien.

 

Die Überlebenden

Die sowjetischen Offiziere verheizten ihre Soldaten, schickten sie über Minenfelder und gegen uneinnehmbare Stellungen. Sie hatten Angst, sonst selbst von ihren Generälen vor das Tribunal gestellt zu werden. Die Generäle mussten Stalin versprechen, einen Ort bis zu einem politischen Feiertag zu erobern. Fast hunderttausend sowjetische Soldaten fielen vor Berlin, damit die Marschälle Schukow und Konew dem Generalissimus Stalin die Stadt zum 1. Mai schenken konnten. Jeder vierte sowjetische Soldat kehrte nicht mehr aus dem Krieg zurück.

Nach der Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai 1945 wurden viele Kriegsheimkehrer zu Hause mit Glückstränen empfangen – für Stalin, seine Marschälle, Politkommissare und Parteibonzen waren sie jedoch nicht willkommen. Nach dem Sieg über die Nazis hofften viele Soldaten, dass ihr Land nun anders werden würde: frei, gerecht, gewaltlos.

Stalin hatte andere Pläne. Er ließ ein paar Mal den „Tag des Sieges“ feiern, dann gab es keinen arbeitsfreien Tag mehr, keine feierlichen Versammlungen, keine Paraden, keine Veteranentreffen mit Schulkindern. Die Kriegsheimkehrer, die ihre Beine oder Arme verloren hatten, wurden aus dem Stadtbild entfernt auf die nördlichen Inseln deportiert. Auch die Juden sollten deportiert werden. Stalin wollte das Problem, das Hitler so beschäftigt hatte, in seinem Reich endlich lösen. Wieder fuhren Viehwaggons mit Volksfeinden in den Gulag. Katja war beides, Jüdin und Volksfeindin, sie kam ins Gefängnis.

 

GVK

Erst nach Stalins Tod wurde Katja entlassen, in ein Land, das die Erinnerung an den Krieg verdrängt hatte. Zwanzig Jahre nach Kriegsende entdeckte der Kreml zwar den Sieg für sich neu, aber Katja und viele Überlebende fanden sich in dieser pompösen Erzählung nicht mehr wieder. Die Lüge vom großen und heiligen Krieg des sowjetischen Volkes wurde in den Sechzigerjahren zur wichtigsten Stütze des Regimes, eine andere hatte die Diktatur nicht. Veteranen dienten ihr nun als Priester, marschieren bei Militärparaden mit oder erzählten Kindern von unserem siegreichen Volk. Bald durchdrang die Kriegspropaganda alle Lebensbereiche, war in allen Köpfen implantiert, auch in meinem. Ich wurde 1965 geboren und erlebte von Anfang an, wie mein Geburtsland Schritt für Schritt von einem Kriegskult erobert wurde.

Katja hat nie Orden auf der Brust getragen. Ich habe heute auf heldentatdesvolkes.ru nachgeschaut, ihren einzigen Orden hat Katja erst nach dem Krieg bekommen. Sie stand immer weit hinten in den endlosen sowjetischen Warteschlangen, während andere Veteranen mit ihren Orden und Ausweisen nach vorne drängten. Ich fragte sie, warum sie das nicht auch mache, es hingen doch überall diese Schilder: Veteranen des GVK werden außerhalb der Warteschlange bedient. – Ich will das alles nicht, sagte Katja nur. Ich bin mir heute sicher, sie meinte diese große Lüge, die sie nicht unterstützen wollte. Diese heilige Formel, die so oft beschworen und geschrieben wurde, dass sie sogar ihr eigenes gängiges Kürzel hatte: GVK, Großer Vaterländischer Krieg.

Laute Propaganda hält nie lange, das wussten kluge Köpfe im sowjetischen Zentralkomitee. Irgendjemand dort, vielleicht war es Michail Suslow, die graue Eminenz unter Leonid Breschnew, traf eine zukunftsweisende Entscheidung. Der Kriegskult sollte nun auch Menschen überzeugen, die aus eigener Erfahrung die Wahrheit über den Krieg kannten oder generell die Verlogenheit des Regimes durchschauten. Eine Komponistin oder ein Publizist durften jetzt fast frei arbeiten, wenn ihr Thema der GVK war. Es war damals schwierig, einen zeitgenössischen Roman über die ewigen Themen wie Verrat oder Liebe durch die Zensur zu bekommen, ein Requiem zu komponieren oder eine Pieta zu malen. Das Kürzel GVK machte plötzlich vieles möglich, unter dieser einen Bedingung: Das K darf nur als G dargestellt werden, als heiliger Volkskrieg, gerne mit menschlichem Touch.

 

Ein Krieg für alle

Anfang 1970 besucht der Liedermacher Bulat Okudschawa das Filmstudio Mosfilm. Man bittet ihn, ein Lied für einen Kriegsfilm zu schreiben. Doch Okudschawa, der im Zweiten Weltkrieg selbst Soldat war, will mit der offiziellen Kriegserinnerung nichts zu tun haben. Bevor er endgültig ablehnt, will Okudschawa aber doch das bereits gedrehte Material sehen. Er war damals neben Wladimir Wyssozki das, was im Westen Rock, Punk und Blues zusammen waren. Okudschawa sieht den Rohschnitt des Films Belorussischer Bahnhof von Andrej Smirnow, ein Film, der den Krieg ganz anders zeigt. Nur wenige Tage später kommt er wieder ins Mosfilm, bringt den Text und die Noten für ein Lied mit, das zu einem der bekanntesten sowjetischen Schlager über den Krieg werden soll. Viele können es noch heute auswendig. Der Komponist Alfred Schnittke schrieb zu dem Lied eine Begleitung für zwei Gitarren und komponierte auf Okudschawas Melodie noch einen schmissigen Marsch für das Finale des Films.

In Belorussischer Bahnhof treffen sich 25 Jahre nach Kriegsende alte Kameraden wieder. Kein einziger Schuss fällt, keine Spur von patriotischem Pomp, der Okudschawa so zuwider war. Aber die Propaganda war damals schon weiter, und sie hat etwas anderes von ihm erwartet. Okudschawa war berühmt für seinen innigen Tonfall, und gerade diese Innigkeit machte dann die Kriegslüge für Millionen seiner Landsleute genießbar. Jetzt war sie intim, ging unter die Haut.

Meine Schulfreunde und ich sangen all seine Lieder über Liebe, Freundschaft und Krieg, ganze Abende lang, wenn wir uns alle paar Wochen trafen, für zehn Leute eine Flasche georgischen Wein und eine tschechische Gitarre. Auch über Bücher und Filme steckten wir uns mit der Sehnsucht nach dem Krieg an. Mein Lieblings-Okudschawa war der über die Infanterie, die immer im Frühling an die Front zieht, und nur die Silberweiden winken uns dann zum Abschied.

Andrej Tarkowski oder Dmitri Schostakowitsch und auch die tollsten Popkünstler des Landes wollten meistens nicht mit der Partei zusammenarbeiten. Schnittke und Tarkowski emigrierten später, und trotzdem haben sie den Coup der Kriegspropaganda nie ganz durchschaut. Der Dissident Andrej Sacharow war einer der wenigen, die alles verstanden, die meisten anderen dienten auf ihre Weise in der Kirche des GVK. Bis heute ist jeder russische Krieg ein bisschen groß und ganz vaterländisch, jeder Gegner ein Faschist: 1968 die Tschechen und Slowaken, dann die Afghanen, die Tschetschenen oder jetzt die Ukrainer und wer auch immer als Nächstes dran ist.

 

Wir können es wieder tun

Katja hat ihr Leben lang als Redakteurin einer kleinen wissenschaftlichen Zeitschrift gearbeitet, ihr Freund aus der Studienzeit ist im Krieg gefallen, sie hat nie einen Partner gefunden und ist mit Mitte siebzig gestorben. Was damals auf der verschneiten Kriegsstraße noch geschehen war, als Katjas Lastwagenkolonne einer Wehrmachtpatrouille begegnete, konnte ich von Katjas Freundinnen nicht erfahren. Alle schmunzelten, als sie die Anekdote mit dem Alkohol erzählten, aber was war mit den Deutschen? Katja selbst hat nie, niemals darüber gesprochen, ob sie einen Menschen getötet hat.

Heute sehe ich russische Kindergartenkinder in GVK-Uniformen, und Erwachsene kleben sich dieses Bild an die Autoscheibe oder teilen es im Internet: Eine Art Ampelmännchen, das Hammer und Sichel statt eines Kopfes auf den Schultern trägt, beugt sich über ein anderes, dessen Kopf ein Hakenkreuz ist, als würde das eine von hinten in das andere eindringen. Darunter: 1941–1945. Wir können es wieder tun. Die vergewaltigte Figur kann auch die Flagge der USA tragen, oder anderer Deutscher, der Ukrainer, auch "Ukrofaschisten" genannt. Und auf allen Kanälen laufen alte Kriegslieder. Sie laufen bei Fernsehkonzerten ebenso wie in den Gefängnissen für ukrainische Gefangene, und dort laufen sie mit hoher Lautstärke, als berührungslosen Folter, oder so, wie ein ehemaliger Häftling des Untersuchungsgefängnisses Nr. 1 in Simferopol erzählt:

Männer stehen vor einer Mauer, tief gebeugt, und wenn einer aufblickt, versetzen ihm die Aufseher einen Schlag mit dem Elektroschocker: Dazu sagen sie ihm, dass er das Lied „Der Tag des Sieges“. Dieser Tag des Sieges / riecht nach Schießpulver, beginnt ein Häftling mit einer Stimme, die die anderen nicht wiedererkennen. Den Aufsehern gefällt es. Ab und zu rufen sie: Noch einmal! Und wenn der Gefangene ein Wort verwechselt, verpassen sie ihm wieder einen Elektroschock. Die Entladung geht durch jede Muskelfaser, jede Faser brennt, dann verkrampft sie sich, und man muss trotzdem singen, dieses Fest / mit Tränen in den Augen.

Es gibt mehrere Berichte über Kriegslieder als Folterinstrument. So wird die Unterwerfung unter das „Siegervolk“ erzwungen, und gleichzeitig wollen diese Lieder mit den Gefangenen dasselbe machen, was sie schon mit den Aufsehern gemacht haben. Sie werden zu Russen abgerichtet. Zu einem Wir, das „den Sieg in den Genen“ hat, wie Putin sagt.

Selbst viele Gegner Putins, die nach dem Angriff auf die Ukraine aus Russland geflohen sind, marschieren am 9. Mai in Berlin oder Tel Aviv bei der Gedenkaktion "Unsterbliches Regiment" mit. Sie verklären den GVK zu einer "von allen geteilten Erfahrung", wie die emigrierte Schriftstellerin Maria Stepanowa schreibt, "an der jeder seinen Anteil hat". Meine Großtante Katja ist nie in ihrem Krieg gewesen.

 

© »Tante Katja hat nie Orden auf der Brust getragen«  ZEIT ONLINE,   8. Mai 2025 

Published on  May 9th, 2025

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