Kindheitsbenzin
CC BY-SA 4.0 Artem Svetlov
Statt zu schreiben, könnte ich fliegen. Ich könnte meine Mutter noch einmal sehen, bevor sie allein stirbt, aber ich schreibe. Als ich 16 war und für die Abschlussprüfung lernte, sagte ich zu ihr: „Manchmal wünsche ich mir, dass sie mich verhaften. Dann hätte ich Zeit, einen Roman zu schreiben.“ Mama hat nichts dazu gesagt, und heute weiß ich, was sie damals schon wusste. Wenn ich zu ihr fliege und sie mich dort verhaften, dann werden sie mir ihre Sprache beibringen. Zuerst das Wort propisat, wörtlich „einschreiben“, in ihrer Welt „verprügeln“.
So schreibe ich nur, dass ich fliege. Ich schreibe diesen deutschen Satz in meinem Büro in Berlin, und sage auf Russisch „Guten Tag“ zu einer Frau, die neben mir in der Aeroflot-Maschine nach Moskau sitzt. In meiner hinteren Hosentasche steckt eine Pentobarbital-Tablette, die ich nehmen werde, wenn sie mich verhaften. Noch vor dem Gate habe ich schon einen von ihnen gesehen, einen russischen Veteranen. Er trug auf der Brust Bandschnallen, wie die alten Kriegsveteranen, die zu uns in die Grundschule kamen, nur dass er noch jung war, jünger als ich es jetzt bin. Ich sehe seinen Hinterkopf zwei Reihen vor mir. Noch drei Stunden bis zur Landung.
Hier in der Nähe gibt es den Invalidenpark, aber wenn diese Haltestelle in der Tram angesagt wird, höre ich: Veteranenpark. Im Deutschen sind beide Wörter fast austauschbar, die deutschen Veteranen sind dienstuntauglich und als Begriff kaum noch gebräuchlich, sie sind fast schon ausgestorben wie Heinrich Heines graue Grenadiere, die in Russland gefangen waren und dann mit hängenden Köpfen nach Hause zogen. Der russische Veteran ist immer ein Sieger. Im russischen „siegen“ – pobeschdat‘ – höre ich Stöhnen und Schreien. Ich kann die Bedeutung nicht in ein Wort fassen, nicht in einen Satz, vielleicht schreibe ich meinen nächsten Roman darüber. Ich selbst habe es erst mit sieben oder acht Jahren verstanden, als ich das Auto eines Veteranen beschädigte.
In Moskau war Tauwetter, kein politisches, überall lag noch Schnee. Es war das erste Wochenende des kalendarischen Frühlings, der Tag im Jahr, an dem die meisten Nachbarn die Abdeckplanen von den Autos nahmen, um zum ersten Mal nach dem Winter auf die Datscha zu fahren. Bereits im Spätherbst hatten sie ihre Ladas und Wolgas mit Zeltleinwand abgedeckt, und in den Wochen danach schaute ich aus meinem Fenster im sechsten Stock zu, wie die graugrünen Planen nach und nach unter dem ersten Schnee verschwanden. Unser Block hatte acht Eingänge, und als noch mehr Schnee fiel, zog sich statt der geparkten Autos eine Reihe von Schneehaufen am Haus entlang. Nachdem die Räumfahrzeuge ein paar Mal vorbei gefahren waren, erkannte man nicht mehr, wo genau in dieser Eiswand Autos standen.
Dann taute der Schnee, die Nachbarn deckten ihre Autos ab. Zwischen den Rädern floss ein Bach, der manchmal unter der Eiskruste am Straßenrand verschwand und sich dann wieder über die gesamte Fahrbahn ausbreitete. In diesem Bach ließen wir Kinder Papierschiffchen treiben, „Schiffchen entlassen“ heißt das auf Russisch. Mischa aus der Wohnung unter unserer, damals mein bester Freund, baute aus zwei leeren Leimtuben ein, wie er sagte, unsinkbares Schiff. Es sollte sogar meerestauglich sein und aus unserem Bach in den größeren Wasserlauf am Rand des Leninprospekts und von dort in die Moskwa schwimmen, dann über die Wolga in den Ozean treiben, erzählte Mischa, weil wir beide noch nicht wussten, dass die Wolga in ein Binnenmeer mündet und dass auf dem Wasserweg kein Entlassen möglich ist. Die Wolga mündet in das Kaspische Meer, stand in meinem Russischbuch. Wir wussten nicht, wie todernst es die russische Grammatik mit uns meinte. Es gibt kein Entkommen, wie schon für die Kinder ein Jahrhundert vor uns. Der Spatz ist ein Vogel. Russland ist unser Vaterland. Der Tod ist unvermeidlich, das sind Beispielsätze aus dem Grammatikbuch des Gymnasiasten Vladimir Nabokov. Nabokov zitierte sie später in Paris, in dem letzten Buch, das er auf Russisch schrieb, dann ging er in die USA und ins Englische.
Ich ging nach Berlin, und dort machten meine russischsprachigen Freunde und ich solche Witze: Einer zitierte mit tiefer Stimme, „der Tod ist unvermeidlich“, und ein anderer fügte sofort hinzu, „Widerstand ist zwecklos“. Vor Grammatik hatten wir genauso wenig Angst wie vor den Fernsehmonstern aus Star Trek. Wir waren schließlich alle entkommen, also stimmte es nicht mehr, dass die Wolga in den Kaspisee mündete, dass der Tod unvermeidlich war.
Keine andere Strecke bin ich so oft geflogen wie Berlin-Moskau, und eigentlich muss ich genauso oft in die Gegenrichtung geflogen sein. Daran erinnere ich mich kaum. Nur wenn ich schreibe, dass ich nach Moskau fliege, kommt alles wieder zurück. Ich habe wieder Angst, dass ich etwas Gefährliches dabei habe. Beim letzten Mal war es mein Smartphone mit all meinen Kontakten, Social-Media-Posts und Texten. Es war gesperrt, doch es gab damals schon Fälle, wo sie Leute an der Grenze zwangen, ihre Handys zu entsperren, und sie dann wegen eines kritischen Posts verhafteten. Jetzt habe ich nur noch ein altes Tastentelefon bei mir und das Pentobarbital. Ich kaufte es beim billigsten Anbieter für 350 Euro, die anderen wollten 1050. Letzte Woche habe ich mir beigebracht, Tabletten ohne Wasser zu schlucken, habe mit Vitamin D geübt. Es kann sein, dass ich kein Wasser zu Hand habe, wenn ich Pentobarbital nehmen muss.
Ich fliege noch zwei Stunden, dann die Passkontrolle, und wenn sie mich durchlassen, bin ich eine Stunde später in der Wohnung, wo Mama mich nicht erwartet. Sie hat mir oft zu verstehen gegeben, dass ich nicht kommen darf, nicht einmal zu ihrer Beerdigung. Das hat sie mir gesagt, ohne das Wort „Beerdigung“ auszusprechen. Sie sagt auch nie „Putin“ oder „Krieg“ oder „verhaften“, weil unsere Gespräche abgehört werden könnten. Sie scheint auch zu glauben, dass selbst Wörter wie „meine Beerdigung“ irgendwo Verdacht erwecken. Meine Mutter spricht eine Sprache, die Angst vor ihren eigenen Wörtern hat.
Die Mutter von Paul Celan haben sie auch getötet, andere Mörder. Meine Mutter lebt noch, aber zwei Reihen vor mir im Flugzeug sitzt einer von denen, die sie schon immer quälten, Wort für Wort, ihr ganzes Leben lang. Sie sagten: Sieg, und meinten: Mord.
Meine Mutter will nicht auswandern, sie will nicht zu mir nach Berlin ziehen, will ihre Welt nicht verlassen. Diese Welt ist dieselbe, die ich mit sechs Jahren bewohnt habe. Mit sieben bin ich schon allein mit der Metro gefahren, das macht Mama nicht mehr. Die Metrostation Jugo Sapadnaja ist für sie die Grenze, und selbst dorthin geht sie nur, wenn ihre Lebensmittel-App nicht funktioniert und sie in einem Laden direkt an der Station ein Bio-Hähnchen kaufen will. Mama leidet an Netzhautdystrophie, das ist unheilbar. Sie kommt gerade noch mit ihrer gewohnten Welt zurecht, in der sie alles mit geschlossenen Augen erledigen kann. Ihre Augen sind offen, aber sie sieht nur das, was sie kennt, die Wohnung, das Haus, den Supermarkt, die Bäume, die Autos, mein Gesicht auf dem Bildschirm. In Berlin würde sie fast nichts mehr erkennen.
Die Bäume vor unserem Block sind größer geworden und die meisten Autos sind heute neu, unter dem Schnee sehen sie aus wie früher. In meiner Kindheit standen dort nur sowjetische Wagen. Aber zwei Häuser weiter parkte ein Mercedes, damals schon ein Oldtimer. Er fuhr nie und war wahrscheinlich kaputt, und trotzdem war er viel schneller als unsere Autos. Ich schaute durch die Seitenscheibe, sein Tacho reichte bis zu 200 Stundenkilometern und beim schnellsten Wolga nur bis 160.
"Dein Schiffchen kommt nicht ins Meer", sagte ich zu Mischa, "weiter unten ist ein Gully in der Straße.“ Ich beschloss, lieber einen Damm zu bauen. Ich sammelte Eisbrocken vom Straßenrand und warf sie in den Bach, bis sich das Wasser staute, und erst dann sah man, wie schmutzig es war, braun wie Kakao. Die Nachbarn stiegen in ihre ausgepackten Autos, ließen die Motoren warmlaufen, und über den Pfützen trieb ein durchsichtiger blauer Benzindunst. Es roch nach Öl, Rauch und Panzern.
Ein einziges Auto blieb noch eingehüllt. Es war ein altes und böses Auto, hatte meine Mutter erzählt, es hat ein anderes Auto bestohlen, ein deutsches Auto. Und es wurde nicht nur dieses eine Auto gestohlen, sondern das ganze Werk, wo es gebaut worden war. „Weil wir die Deutschen ja besiegt haben“, erwiderte ich, wie ich es schon im Kindergarten gelernt hatte. Sie hatten uns hinterlistig überfallen, doch dann siegten wir. Mutter wiederholte nur, dieses Auto sei in Wirklichkeit ein geklauter Opel Kadett, in Moskau nachgebaut und Moskwitsch genannt. Dann passt doch der Name, dachte ich, sagte es aber lieber nicht. Der Moskauer Kadett stand verhüllt mitten in meinem Stausee, der inzwischen die Straße überflutet hatte und so tief war, dass man die Räder des Kadetts nicht mehr sah. Aus der braunen Pfütze ragte ein Autosarg, eingehüllt in wasserabweisende khakifarbene Plane. Dann sah ich den Veteranen, dem das Auto gehörte.
In Moskau ist es zwei Stunden später, schon dunkel, Mama macht gerade den Abwasch nach dem Abendessen, das sie für sich allein gekocht hat. Kabeljau aus dem Tiefkühlfach zum Beispiel und Salzkartoffeln. Ich weiß es nicht, ich habe sie heute nicht angerufen. Bald geht sie ins Bad, macht sich für die Nacht fertig. Im Bett hört sie Hörbücher, die sie sich im Internet aussucht, lesen kann sie nicht mehr.
Die Welt meiner Mutter war früher riesig. Während fast alle anderen das Land nicht verlassen durften, reiste sie überall hin. Die Freunde meiner Eltern hatten den Spruch "Paris sehen und sterben". Das klang wie "vor Glück sterben", nur dass man damals vor Paris starb. Das war einfacher, als nach Paris zu fahren. Meine Mutter arbeitete im Verband der bildenden Künste und begleitete zwei- oder dreimal im Jahr Künstlergruppen ins Ausland. Wenn Mama, die ich immer sehr vermisst hatte, endlich nach Hause kam, erzählte sie von ihren Freundinnen in Polen oder in Frankreich. Eine Freundin in Paris, Natalie, teilte mit meiner Mutter ihr Parfüm, sie tupfte ihr mit dem Finger hinter die Ohren und hierhin, Mama zeigte auf die Pulsader am Handgelenk. Natalie nahm sie überallhin mit und erzählte ihr, wie sie im Café La Chope manchmal bis spät in die Nacht mit Paul Celan gesprochen habe, der sie übrigens, wie Natalie sagte, zu mögen schien. Celan, das sei ein genialer Dichter, wollte sie noch erklären, aber Mutter wusste, wer das war. Die Todesfuge blieb in der russischen Übersetzung sehr lebendig, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie nie in einem gedruckten Buch erschienen war. Celans Gedichte wurden auf privaten Schreibmaschinen getippt, geheftet und im Bekanntenkreis herumgereicht. Wir hatten zu Hause einen vierten oder fünften blassen Durchschlag. Heute kann Mama das nicht einmal mehr mit der Lupe entziffern, mit der sie auf ihrem Telefon meine Nachrichten aus Berlin liest.
Jetzt ist sie wahrscheinlich noch wach und wäre noch nicht im Bett, wenn dieses Ich, das jetzt nach Moskau fliegt, später an der Tür klingeln würde. Wenn an der Grenze nichts passiert. Ich habe recherchiert, wann die Wirkung von Pentobarbital unumkehrbar ist, bei meiner Dosis sind es etwa 30 Minuten. Danach ist keine Wiederbelebung möglich. Wir landen in wenigen Minuten, sagt der Pilot, und ich entscheide, dass es am sichersten ist, die Tablette in die Hand zu nehmen.
Ich schreibe das und stelle mir vor, wie mich ein russischer Grenzbeamter ansehen würde, wenn ich tatsächlich nach Moskau fliegen sollte: hier kommt einer, der wie ein Deutscher aussieht, in dessen Pass aber unter Geburtsort „Moskau“ steht, ein Mutterlandsverräter. Er würde von meinem Pass aufblicken und mich anstarren wie der Kriegsveteran damals vor unserem Haus.
Der Veteran stand auf der anderen Seite von meiner Staupfütze und hatte gerade gesehen, wie ich ein riesiges Stück harten Schnee auf den Damm geworfen hatte. Er trug trotz Kälte keine Mütze, nur eine wattierte Militärwinterjacke mit stahlblauem Kunstfellkragen. „Los!”, rief Mischa. Wenn der Veteran jetzt versucht hätte, mich anzufassen oder anzuschreien, wäre ich weggerannt, aber er blieb stehen. Ich auch. Ich roch Benzin. Als er dann langsam um die Pfütze herum auf mich zukam, konnte ich mich schon nicht mehr rühren. Der Veteran sah mir in die Augen, kam immer näher, blieb einen halben Schritt vor mir stehen. Er berührte mich nicht. Er sprach.
Er artikulierte übertrieben deutlich, ich hörte Wörter wie gesiegt und der Große Vaterländische Krieg, den er für mich geführt hatte, doch sein „für dich“ klang wie „dich besiegt“, und nicht besiegt, nein. Er erklärte genau, was und wie er mit „meinesgleichen“ machte, er sprach ein Russisch, das noch nie jemand mit mir gesprochen hatte. Die einzelnen Schimpfwörter kannte natürlich jedes Kind, aber was der Veteran mit diesen Wortbausteinen machte, klang für mich nicht richtig, wie auf Deutsch durchfotzen oder deinen Schwanz umdärmen. Zugleich war es eindeutig meine Muttersprache, denn es tat weh. Es war keine Drohung, seine Sprache war schon meine Strafe.
Später sagte mir Mama, dass er kein echter Veteran sei, zu jung, um im Krieg gewesen zu sein. Sie irrte sich, er war unüberhörbar ein richtiger Veteran, ein Sieger in einem namenlosen Krieg. Er stand nah bei mir, eigentlich schon über mir. Während seine Wörter immer tiefer in mich eindrangen, kniff der Veteran seine Augen immer enger zusammen. Sie waren blau wie sein Kragen. Dann packte mich jemand am Ellenbogen. Mischa zog mich zurück. Wir liefen weg.
„Warum hast du dagestanden wie ein Idiot? Du darfst ihnen nie zeigen, dass du sie verstehst, sie wollen sehen, wie du leidest", sagte Mischa in unserem Hauseingang, aber es war zu spät, ich hatte schon alles verstanden.
Meine Mutter wollte diesen Veteranen, der keiner war, zur Rede stellen. Ich schrie sie an, heulte, weil ich das schon vor Augen hatte: Sie geht zu ihm, kommt zurück und redet mit mir wie eine Veteranin. Mama blieb zu Hause. Später war ich derjenige, der wegging.
Wenn ich meine Mutter anrufe, sehe ich in meiner Handfläche ihr verpixeltes Gesicht, Bücherregale dahinter, ein Fenster. Ich bitte Mama, mir zu zeigen, was man aus unserem Fenster sieht, manchmal schneit es, manchmal sind die Blätter gelb, alles fast wie früher. Falls ich erst dorthin fliege, wenn die Veteranen dort nicht mehr das Sagen haben, wenn alles so endet, wie es nur enden kann, dann steht unser Block wahrscheinlich schon voller Einschlaglöcher da und mit einer abgerissenen Außenwand. Eine Drohne würde die Buchtitel in den Regalen von draußen noch lesen können, wenn die Buchrücken nicht von Postkarten und Ausstellungsflyern verdeckt sind, die meine Eltern zur Erinnerung ins Regal gestellt hatten. Sie stehen immer noch an ihren Stellen. Die Regale sind verglast, und die Scheiben werden sie noch lange vor Regen und Schnee schützen.
Meine Mutter und ich sprechen Russisch miteinander. Mama ist stolz darauf, dass ich in einer anderen Sprache schreibe. Sie weiß nicht, dass ich mich ständig frage, ob ein Satz, zum Beispiel dieser, richtig oder zu russisch klingt. Ich fliege nicht zu meiner Mutter, aber ich kann jetzt etwas anderes für sie tun. Ich werde nicht mehr versuchen, alle Spuren der Muttersprache aus meinem Deutsch zu tilgen. Neulich hat mir Mama etwas erzählt, was sie einmal in Paris von ihrer Freundin Natalie gehört hatte. Celan hatte Natalie wieder ins La Chope eingeladen und dort zu ihr gesagt: „Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit sagen“. Dann blickte Celan auf und wie beiläufig – obwohl Natalie merkte, dass es ihm wichtig war – fügte er hinzu: „In der Fremdsprache lügt der Dichter.“
Ich schreibe deutsche Prosa, in die ich meine Wahrheit übersetze, oder ich scheitere. Der andere, der fliegt, macht es besser. Statt zu schreiben, setzt er einfach mit der Aeroflot nach Moskau über. Vielleicht ist er von uns beiden der Dichter. Vielleicht würde er sich schämen, wenn er sich an mich erinnerte, der ich in Berlin geblieben bin und, wenn überhaupt, nur zu schreiben wage.
„Warum emigrieren wir nicht?“, fragte ich meine Mutter, seit ich zwölf war, und wenn sie antwortete, klang ihre Stimme, als würde sie ein Naturgedicht aufsagen. Jedes Jahr im Herbst, wenn das Wetter schön war, rezitierte Mama ein altes Gedicht, manchmal nur das lange letzte Wort aus der ersten Zeile, perwonatschalny. Heute habe ich fast eine Stunde mit drei verschiedenen Online-Intelligenzen gekämpft, um es zu übersetzen. Das ist herausgekommen:
Im allerersten Herbstanfang
Gibt's eine kurze, holde Zeit –
Der Tag steht klar im Kristallklang,
Die Abende sind lichtgeweiht.
In diesen mechanischen Versen höre ich meine Mutter nicht mehr. Hat Celan recht, darf ich nur in meiner Muttersprache schreiben? Ich, der ich vor dem Bildschirm sitze, werde es nie erfahren. Aber vielleicht weiß es bald der, der gerade in Moskau gelandet ist. Jetzt stehe ich schon zwischen den Sitzreihen in der Schlange der aussteigenden Passagiere, jetzt verlasse ich die Maschine. Die Moskauer Luft ist immer die gleiche. Es riecht nach Kindheitsbenzin.
© »Kindheitsbenzin« Tage der deutschsprachigen Literatur 2025, 28. Juni 2025