Liebes Russland

Sie umstellen mich, fünf oder sechs junge Männer in Felduniform, ich rieche alten Schweiß, höre: „Gleich gibt's was auf die Nieren, bis du Blut pisst“. Dann zerren sie mich, so stellte ich es mir vor, in die Toilette ihrer Kaserne, drücken meinen Kopf in die Kloschüssel. Etwa eine halbe Stunde später werde ich mit inneren und äußeren Verletzungen, die ich hier nicht aufzähle, auf dem nassen Fliesenboden, wie sie es nennen, verrecken.

Ich war 17 Jahre alt und ich dachte, ich würde mein nächstes Lebensjahr nicht überleben. Mit 18 werden heute russische und früher sowjetische Männer in die Armee eingezogen. Dort werden die neuen Wehrpflichtigen systematisch  misshandelt und Müttersöhnchen wie ich oft zu Tode geprügelt oder in den Selbstmord getrieben. Die Täter sind andere Soldaten, meist nur um einige Monate älter. In meiner Schule stimmten sich manche Jungs schon auf den Wehrdienst ein, sie benutzten oft ein Verb, das ich nur so übersetzen kann: durch gezielte Schläge Körperteile oder innere Organe lebensgefährlich oder mit Todesfolge beschädigen, auf Russisch einfach otbit‘.

Als ich vor 30 Jahren nach Deutschland kam, waren hier noch russische Truppen stationiert, in den Kasernen wurden junge Soldaten misshandelt. Mich hieß man willkommen, ich war ja ein anderer, ein lieber Russe, ich wurde ständig umarmt, weil man in mir eine geheimnisvolle russische Seele spürte. Damals lachte ich darüber, ich wusste nicht, dass die deutsche Liebe zu Russland über Leichen gehen kann, über Menschen, die heute von russischen Raketen in ihren Wohnungen getötet werden. Russlandliebe ist mitverantwortlich für diese Morde, zusammen mit der Ignoranz vieler Friedensbewegter und der Gier von Unternehmern. Sie ist so versessen darauf, neben den Raketen ein anderes, liebes Russland zu sehen, dass sie die Raketen gleich mit ins Herz schließt. Das wundert mich nicht im Geringsten, ich habe Russland einst genauso geliebt.

 

Großväterchen Russland

Wer in Russland aufwächst, kennt Dutzende Namen für Gewalt. Die in den Kasernen heißt „Dedowschtschina“. Bis heute werden dort jedes Jahr Hunderttausende junger Männer gedemütigt, oft geschlagen, manchmal vergewaltigt oder zu Tode geprügelt. In den ersten Monaten werden sie „Geister“ genannt oder „Söhnchen“, sie werden gezwungen, älteren Soldaten die Unterhosen mit der Hand zu waschen, wenn sie nicht die Kloschüssel mit der Zunge ausschlecken wollen. Jeder Geist, der sich dieser Dedowschtschina fügt, steigt später auf zum ded, Großvater, und darf nun selbst die Neuankömmlinge "erziehen". Das bedeutet nicht einfach "prügeln".

Russische Großväter sind erfinderisch, jeder Alltagsgegenstand ist für sie ein Folterwerkzeug. Streichhölzer können zwischen die Zehen gesteckt und angezündet werden, mit dem Stiel eines Wischmobs kann man Menschen vergewaltigen. Auch Bett und Nachttisch können starke Schmerzen zufügen. Und ganz gewöhnliche Fäuste und Stiefel tun es auch.

 

Meine Mutter, Vater, Freunde und ich klammerten uns an schöne Bücher oder schöne Landschaften Russlands. Wir dachten, wie viele andere auch, dass das Böse „sowjetisch“ sei, wie das Russische Reich in meiner Jugend genannt wurde. Das Wort „Russland“ erfüllte uns mit Wärme. Und heute, im zweiten Jahr des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukrainer, höre ich das auch aus Deutschland: Nicht alles an Russland sei schlecht, man dürfe nicht alles über einen Kamm scheren, ganz so eindeutig sei es nicht, es gebe ja auch noch ein anderes, ein liebes Russland.

 

Männer mit Schnee auf den Schapkas

Ich bin 17. Mein Schreibtisch steht am Fenster im sechsten Stock. Bis zu meiner Einberufung sind es noch neun Monate, dann sechs, dann vier, draußen fällt Schnee, dann Regen. Ich schätze meine Überlebenschancen auf 50 Prozent, und ich schreibe über die Dedowschtschina eine Kurzgeschichte, vielleicht meine erste. Ich erfinde nichts. Seit Wochen höre ich abends die aufgebrachte Stimme meiner Mutter, die mit einer Freundin telefoniert. Sie erzählt Mama von ihrem Sohn, der ein halbes Jahr vor meiner anstehenden Einberufung eingezogen wurde. Sie nennt ihn ihren Jungen, so spricht auch Mama von ihm. Der Junge ist Kampfsportler, und er ist gerne zur Armee gegangen. Vielleicht glaubte er an das Versprechen, dass man dort „richtige Männer“ aus uns machen würde, und natürlich wollte er auf keinen Fall wie ein Geist behandelt werden.

Hier schreibe ich seine Geschichte noch einmal auf, ich will wenigstens diesen einen Fall dokumentieren, einen von zig Tausenden, über die es keine Statistiken und kaum Akten gibt. Der Junge wollte die älteren Soldaten nicht mit „Großväterchen“ anreden, wollte nicht stillstehen und sich gegen Kopf und Oberkörper schlagen lassen, wollte nicht für die Großväter obszöne Gutenachtlieder singen. Ziel der Dedowstschina ist es, dem jungen Menschen jede Würde zu nehmen, ihn zu entmenschlichen. Der Junge wehrte sich. Es brauchte alle Großväter dieser Einheit, um ihm beizubringen, dass er sich zu fügen hatte. Vier hielten ihn fest, andere schlugen ihn auf die Stellen seines Körpers, wo der Schmerz und der Schaden am größten waren. Sehr lange, erzählte meine Mutter, die halbe Nacht. Sie hätten ihm „alles otbili“, mit gezielten Schlägen usw., ich schreibe es nicht noch einmal aus.

Mutters Freundin erzählte ihr, wie die Armee ihren sterbenden Sohn wochenlang vor ihr versteckt hatte, wie sie sich zu ihm ins Lazarett durchkämpfte und seine Entlassung forderte. Dann habe sie ihren Sohn, der einen Kopf größer als sie selbst gewesen sei, auf dem Arm nach Hause getragen, „wie ein Baby“.

 

Als ich das aufschrieb, fing es vor dem Fenster an zu schneien. Der Wohnblock gegenüber schien im Schneegestöber zu schweben, und ich schrieb weiter über mein zukünftiges Leben in der Armee. Ich sah einen verschneiten Kasernenhof, den ich mir tief in den Wäldern Sibiriens vorstellte, verschneite Militärfahrzeuge. Jetzt erinnere ich mich an nur einen Satz, vielleicht weil er mir besonders peinlich ist. Ich schrieb, dass auf den Schultern und Mützen der Männer, die über diesen Kasernenhof gingen, derselbe Schnee lag, der damals vor meinem Moskauer Fenster fiel. Das war die Art Prosa, die sich wie Schnee über Schmerz und Leid legt. Bei den Liebhabern der russischen Seele wäre es sicher gut angekommen, aber ich schrieb das für mich, und mir hat’s geholfen. Ich fürchtete mich nicht mehr vor sadistischen Großvätern, plötzlich waren sie mir nah wie die russische Seele, wie die russische Natur und Literatur.

 

Heimat, handflächengroß

Ich bin 11. Meine Mitschüler warten nach dem Unterricht auf dem Schulhof, sie wollen mir „Heimatliebe beibringen“. Nur mein bester Freund Dimka ist bei mir geblieben. „An deiner Stelle würde ich sie nicht warten lassen“, sagt er, „du machst sie nur noch böser.“ Dimka hat Recht, ich sollte jetzt raus.

„Heimatliebe“ kann im Russischen „Prügel“ bedeuten, jeder kennt dort die Drohung, „Wir bringen es dir schon bei, deine Heimat zu lieben!“. Das heißt, „Wir werden dich jetzt so lange misshandeln, bis du dich fügst“, bis du die Regeln deiner Heimat befolgst. In der Armee musst du dich den Großvätern beugen, dich entwürdigen lassen und dann selbst andere misshandeln. In der Familie – nicht in allen, nicht in meiner – musst du dich als Kind den Eltern, als Frau dem Mann fügen, dich sogar schlagen lassen, denn „wer schlägt, der liebt“, sagt der russische Volksmund. Schätzungen zufolge stirbt in Russland jede Stunde eine Frau an dieser Liebe, wenn nicht noch öfter, genaue Zahlen sind geheim oder werden nicht mehr erhoben. Seit 2017 ist leichte und mittlere Körperverletzung in der Familie entkriminalisiert, damit alle lernen, ihre Heimat zu lieben.

 

Ich gehe hinaus auf den Schulhof, die Jacke offen, der Ranzen in der Hand, ich will mich wehren, solange ich kann. Das wird nicht meine erste Heimatstunde sein, damit haben sie schon im Kindergarten angefangen. Aber die Erziehungsmittel waren anders. Im Kindergarten schlagen sie dich mit der flachen Hand, mit Fäusten im Waisenheim oder in der Kaserne, auf der Straße kommen Messer dazu, im Gefängnis auch Vergewaltigung. Polizei und Banditen foltern mit Strom. In der Ukraine setzt Russland alles zusammen ein, und ich habe gelesen, wie dort Menschen mit Elektroschocks gefoltert werden und wie sie dabei Lieder über die Liebe zur russischen Heimat singen müssen.

Danke, Dimka, für deinen Rat, auch wenn du damals nicht mitgekommen bist. Er blieb in der Garderobe, als unsere Mitschüler, die wirklich noch nicht sehr böse waren, mir den Ranzen aus der Hand schlugen und die Jacke runterrissen. Dann bin ich weggelaufen.

 

Heute sehe ich meine Heimat nur handflächengroß auf dem Bildschirm meines Telefons, wenn ich mit Mama spreche. Ihr Gesicht, hinter ihr die Bücherregale, immer noch dieselben Buchrücken wie in meiner Kindheit. Alexander Blok, acht blaue Bände, Alexander Puschkin, zehn, braun, fünfzig Jahre alten Ansichtskarten, und manchmal bitte ich Mama, mir den Rest der Wohnung zu zeigen, den Blick aus dem Fenster, vor dem damals Schnee fiel und die Nachbarhäuser zu fliegen schienen. Ich glaube, ich werde meine alte Wohnung nur noch auf dem Bildschirm sehen.

 

Gogol Boulevard

Ich bin 14. „Ich hasse meine Heimat“, sage ich zu meiner Mutter. Wir sind gerade an den Sprudelautomaten vorbeigekommen, die damals neben dem Metroeingang „Gogol Boulevard“ standen. Meine Mutter redet mit mir wie mit einem Erwachsenen: „Man darf die Heimat nicht mit der Regierung verwechseln“.

Die Regierung hassen bei uns viele, und je mehr sie sie hassen, desto mehr lieben sie die Heimat. Mutters Heimat sind die endlosen Weizenfelder, die Ähren doppelt so hoch wie sie mit ihren vier Jahren, als sie einmal ins Nachbardorf lief, eine schwarze Gewitterwolke immer größer über dem goldenen Feld. Ihre Heimat sind die Freunde, sind die alten Dichter und die engen Gassen um den Gogol Boulevard, wo ein Denkmal für Gogol steht, auf dem Kopf immer eine Taube, oder zwei. Mama arbeitet auch hier, sie ist Referentin im Verband sowjetischer Künstler, reist oft mit ihnen ins Ausland. Sie freut sich jedes Mal, etwas anderes als Russland zu sehen, aber sie will nicht weg. Sie bleibt, und sie hat noch viel Zeit, noch vier Jahre, um etwas zu unternehmen, damit das böse Russland, die „Regierung“, ihren Sohn nicht umbringt.

 

Russland gibt es nicht

In letzter Zeit lese ich immer öfter das kyrillische „russland“ mit kleinem r. Das ist grammatikalisch korrekt, denn im Ukrainischen und im Russischen werden nur die Eigennamen groß geschrieben, die anderen Nomen nicht. Die Menschen in der Ukraine erleben gerade, dass „Russland“ kein Landesname ist, es bedeutet für sie „Reich“, „Unterwerfung“ oder „Tyrannei“, alles Wörter, die klein geschrieben werden. Als Jugendlicher dachte ich, dass Russland zumindest früher, vor Stalin und vor Lenin, ein normales Land war, doch egal wie weit ich heute zurückschaue, finde ich kein anderes Russland.

„Es gibt kein Russland, es gibt nur das Russische Reich“, sagte 1911 Sergej Witte, Premierminister des letzten Zaren, und er musste es wissen. Es gibt und gab kein Russland, nur ein Netz kolonialer Gewalt, in dem Territorien gefangen sind. Russland wird gerne als das Land der großen Flüsse und der großen Bücher gesehen, doch sie alle kleben nur fest am russischen Netz und kommen nicht mehr heraus, die Menschen auch nicht.

„Der Teufel hat mir einfallen lassen, in Russland geboren zu werden mit einer Seele und mit Talent!“ Dieser Satz von Puschkin kann einen auch stolz machen, ich bin es jedenfalls lange gewesen. Es ist schon etwas Besonderes, in diesen ewigen Kriegszustand hineingeboren zu sein und aus ihm heraus zu schreiben.

 

„Sie kannten die richtigen Stellen auf der Brust oder am Kopf, ein Schlag dorthin, mit dem Gewehrkolben oder mit der Faust, und der Soldat war tot“. Das erzählte ein alter Soldat Lew Tolstoi, und als ich seinen Bericht las, wusste ich sofort, wer damals, vor zweihundert Jahren „sie“ waren. Der Soldat erinnerte sich, wie er misshandelt wurde und wie er später andere misshandelte. Tolstoi schreibt, dass sich der 95-Jährige sichtlich über diese Erinnerungen freute: „Härter zuschlagen! rief der Alte mit einer Kommandostimme, die er nicht ohne Vergnügen wiedergab“. Diese Stimme gehörte einem seiner Offiziere, der damals das Spießrutenlaufen befohlen hatte. "Der Alte" sparte nicht mit Details und „erzählte ohne eine Spur von Reue“, wie ein Soldat durch eine Gasse von mehreren Hundert anderen gezerrt wurde und von jedem einen Stockschlag erhielt. Fast fünfzig Jahre später notiert Tolstoi, wie „die blutigen Narben sich zuerst kreuzten, dann zusammenwuchsen, Blut spritzte, blutiges Fleisch in Fetzen flog und Knochen freigelegt wurden“.

Lew Tolstoi hatte in seiner Jugend in dieser Armee gedient, nur wenig später als der nun alte Soldat, damals glaubte er noch an ein gutes Russland, und die Gewalt erschien ihm nicht außergewöhnlich. Was er später darüber und über den russischen Völkermord im Kaukasus schrieb, durfte zu seinen Lebzeiten nur im Ausland erscheinen. Übrigens lässt sich die russische Gewaltsprache nur annähernd übersetzen. Der Offizier beim Spießrutenlaufen rief nicht härter, sondern bolnej, wörtlich „schmerzhafter zuschlagen!“, aber das habe ich so noch nie auf Deutsch gehört.

 

Dedowschtschina-light

Als ich Russland noch liebte, wollte ich es in Öl malen: ein verlassenes Bahngleis im Wald, noch kein Schnee, Blätter in den Farben des russischen Herbstes, den Puschkin so geliebt hatte. Ich lernte malen, um nicht zur Armee zu gehen. Der Plan war, nach dem Abitur Kunst zu studieren, weil Studenten erst nach dem Abschluss eingezogen wurden. Ich wusste: Wenn ich nicht schön genug male, schaffe ich die Aufnahmeprüfung nicht und lande in der Kaserne statt an der Kunsthochschule. Ich lernte ganz hübsch malen, wurde aufgenommen. Viele meiner Kommilitonen kamen gerade aus der Armee, waren gestern noch Großväter. Sie haben in unserem Kurs eine Dedowschtschina-light eingeführt. Mit Pinsel und Palette in der Hand kamen sie nah auf mich zu und wollten mir beibringen, meine Heimat zu lieben. Dazu kam es nicht, ich brach die Kunsthochschule ab, und eine russische Herbstbahn habe ich nie gemalt.

 

Mein verfilztes, geliebtes Mütterchen

Russland grenzt an Gott, schrieb Rainer Maria Rilke zur gleichen Zeit, als Tolstoi über die Gewalt in Russland schrieb. Das wiederholte Bundespräsident Steinmeier 2017, als Russland schon drei Jahre in der Ukraine mordete. Noch präziser formulierte es Wladimir Putin: „Russlands Grenzen enden nirgendwo“. Dieses seltsame politische Gebilde, das große Russland mit dem kleinen r, ist auf ständige Ausdehnung angelegt. Klein kann es nicht sein, anders auch nicht.

 

Ich habe so viel über dieses andere Russland gehört, gelesen, Filme gesehen, aber immer ging es um Menschen in Russland, die sich von Russland befreien wollten. Während sich die meisten damit arrangierten oder ihre Heimat lieben lernten, wollten andere einfach nur weg aus dem Reich, allein oder mit ihrem Volk und ihrem Land. Manche lehnten die russische Gewalt ab oder nahmen sie zumindest wahr. Auch das war alles andere als selbstverständlich. Tolstoi schrieb gegen die Gewalt an, Dostojewski schrieb in sie hinein. Das macht sie alle so besonders, so russisch.

Als Russe wird man mit Gewalt gestopft, überfüttert wie eine französische Gans mit Mais und Schweineschmalz. So entsteht eine Delikatesse, die Foie gras für Russlandliebhaber, die russische Literatur. Wenn ich zurückblicke, sehe ich lauter gebrochene Autorenschicksale. Eine Kugel am Ende des Lebens oder der Strang, Lager, Zwangsernährung oder Hunger oder, wie der Dichter Alexander Blok schrieb: „Mich hat mein verfilztes, stammelndes, geliebtes Mütterchen Russland gefressen wie die Muttersau ihr Ferkel“. Und gleichzeitig klammerten sich so viele an den Traum von einem anderen, freien, spirituellen Russland, an jenes Mütterchen, das noch nie jemanden vor den Großvätern beschützt hatte.

 

500 Kilo Literatur

Neulich träumte meine Mutter, wie sie auf einer Modenschau ein Kleid vorführte. Sie erzählte mir das, und ihre Stimme klang erleichtert, aufgelöst, sie gab zu, dass ihr diese Vorstellung schon peinlich sei, sie mit ihren 84 Jahren in einem roten Kleid auf dem Laufsteg. Andererseits sei es so viel besser als die Träume, die sie sonst jede Nacht habe: Leichen, die aus den Trümmern der Häuser in der Ukraine geborgen werden. Leichen, die nicht geborgen werden können, wenn Menschen zwischen den Wänden ihrer Wohnungen zerquetscht werden. Viele Plattenbauten in der Ukraine sind nach dem gleichen Plan gebaut wie unser Wohnblock. Ich erinnere Mama daran, was sie mir damals auf dem Gogol Boulevard über die liebe Heimat gesagt hat.

 

Ende letzten Jahres sah ich das liebe Russland wieder auf den Bildern von Mariupol. In den ersten Kriegswochen hatte Russland das Stadttheater mit Hunderten Menschen darin bombardiert, wahrscheinlich mit zwei lasergelenkten 500-Kilo-Bomben. Später verdeckten die Besatzer die Ruine mit riesigen, auf Planen gemalten Köpfen: Tolstoi, Puschkin, Gogol. Nikolai Gogol war ein Ukrainer, der sich selbst beigebracht hatte, Russland zu lieben, und sich dann im patriotischen und religiösen Wahn durch Hunger umbrachte.

Russlandliebe ist Teil der russischen Militärdoktrin. In Deutschland sorgt sie auch dafür, dass Russland erst Tausende Ukrainer töten darf, bevor sie sich mit einer neuen deutschen Waffe verteidigen können. Die deutsche Angst spielt da eine Rolle, aber auch dieses diffuse Gefühl, dass Russland doch nicht ganz so schlimm sein kann. Man hört, Bucha, Isjum, Mariupol, und denkt bei sich, Tolstoi, Dostojewski, Tschechow. Oder man sagt es laut. Und man hat Recht, die russische Seele ist in der Tat mit der russischen Gewalt verbunden, meine war es jedenfalls.

 

Fixiert auf Sex

Ein Detail über den "Jungen" der Freundin meiner Mutter hatte mir damals fast körperlich wehgetan und mich gleichzeitig meine Heimat lieben lassen, auch ihre Großväter. Ich beschrieb sie in meiner Kurzgeschichte als einfache, naturverbundene Menschen, ähnlich den Soldatenfiguren in Tolstois „Krieg und Frieden“. Als diese Männer „mit Schnee auf den Schapkas“ dem Jungen die Liebe zur Heimat beigebracht hatten, traten sie ihn immer wieder gezielt in die Genitalien. Ich weiß nicht mehr, ob und wie lange er überlebt hat.

Die russische Gewalt ist auf Sex fixiert oder auf das, was sie dafür hält. Russland vergewaltigt Menschen in der Ukraine wie in allen Ländern, die es überfällt, und wie in seinen eigenen Gefängnissen, Kasernen und Wohnungen. Das ist ein Instrument der Unterwerfung, und als ich damals über den schönen russischen Schnee schrieb, habe ich mich ohne es zu wissen bereits unterworfen. Mit dieser Liebe im Kopf hätte ich bald in einer Kaserne ins Gras gebissen, nein, in den Schnee oder in vollgepisste Bodenfliesen. Mama hat mich gerettet. Über Bekannte von Bekannten besorgte sie die Telefonnummer eines Generals und überredete ihn, bei meiner Musterungsstelle anzurufen. Laut Vorschrift war ich sowieso zu kurzsichtig für den Wehrdienst, aber sie zogen alle ein, auch die Untauglichen, wenn die keinen General im Bekanntenkreis hatten.

 

„Du hast damals gesagt“, sage ich zu Mama am Telefon, „ich darf mein Land nicht mit der Regierung verwechseln“. – „Da gibt es noch ein anderes Sprichwort“, antwortet sie, „jedes Land hat die Regierung, die es verdient“, und als sie das sagt, sehe ich auf dem Handybildschirm, wie ihr Lächeln vergeht. Das rote Kleid ist vergessen, sie denkt wieder an Leichen.

 

© »Liebes Russland«  Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,   9. September 2023 
 

Published on  January 6th, 2024

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