Meinst du, die Russen wollen Krieg?

 

© NZZ 2014, Fassung 2023

«Meinst du, die Russen wollen Krieg?» Das sang eine zutrauliche Baritonstimme ständig im Radio meiner sowjetischen Kindheit. Die Antwort im Lied war «Nein». Und im Gegensatz zu so vielem, was damals bei uns im Radio lief, war dies nicht gelogen. Die Russen wollten in den sechziger Jahren ganz sicher keinen Krieg, jedenfalls keinen großen Krieg im eigenen Land. Heute freuen sich dieselben Menschen und auch ihre Kinder und Enkel fast einstimmig darüber, dass russische Truppen ein Stück Land, die zur Ukraine gehörende Krim, annektiert haben.

Truppeneinmärsche sind für Russland Routine: Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968, Kabul 1979, Grosny 1994, Georgien 2008. Doch noch nie gab es eine landesweite Kriegseuphorie wie heute. Ich erinnere mich gut an den Einmarsch in Afghanistan. Unser Militärlehrer – wir hatten in der Schule wöchentlich Militärunterricht – hatte sich über der Nachricht wieder einmal besoffen, und meine Mitschüler sagten: «Uns sollen sie mit so was in Ruhe lassen.» Einige wurden dennoch eingezogen.

Die toten Soldaten schickte man in verschweissten Bleisärgen nach Hause. Später kamen die Bleisärge lange aus Tschetschenien, ihr Strom versiegte erst vor zehn Jahren. Dennoch scheint Russland vergessen zu haben, was Krieg bedeutet. Das Wissen darüber bezahlte mein Geburtsland mit über zwanzig Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg. Es bedurfte der Jahrzehnte der Lügen, um den Menschen dieses Wissen auszutreiben.

 

Die Mär vom sauberen Krieg

Wenn die Mehrheit der Russen überhaupt noch an etwas glaubt, dann weder an Lenin noch an Jesus, noch an die Heilige Rus – Russland glaubt an den Krieg. Der «Grosse Vaterländische Krieg», wie der Zweite Weltkrieg genannt wird, ist das wahre russische Heiligtum, und gleichzeitig ist er eine manipulative Täuschung. Während der Krieg eigentlich mit der Aufteilung Polens zwischen Hitler und Stalin im September 1939 anfing, gilt in Russland ein anderes Datum des Kriegsbeginns: Der 22. Juni 1941 gilt als der, wie ich in der Schule gelernt habe, «hinterlistige» Überfall Hitlers auf seinen Verbündeten.

Meinen Grossvater Lasar habe ich nie kennengelernt. Er war ein Kämpfer im Krieg gegen Nazideutschland. An der Front lebten die Soldaten in Erdhütten. Einmal explodierte direkt vor der Tür ein Kanonengeschoss – Lasar wurde getötet. Sein Sohn, mein Vater, war an diesem Tag sechs Jahre alt. Die nächsten siebzig Jahre gedachte er an jedem 9. Mai, dem offiziellen Feiertag des Sieges, still seines Vaters. Trank einen Wodka oder zeigte mir Lasars Foto im Bücherregal. Wie damals viele Sowjetbürger glaubten wir nicht an den sinnvollen, gerechten, sauberen und ästhetisch-schönen Krieg der Staatspropaganda.

 

«Unser Siegervolk»

1974 starb ein Mann, der wohl mehr Menschen in den Tod geschickt hat als jeder andere Russe im Jahrhundert des massenhaften Tötens. Er wird heute als Retter des Vaterlands und genialer Heerführer verehrt – der Eroberer Berlins und Marschall der Sowjetunion, Georgi Schukow. Das Geheimnis seiner Kriegskunst hatte Schukow einmal dem amerikanischen Kollegen General Eisenhower verraten: «Wenn wir auf ein Minenfeld stossen, greifen unsere Soldaten so an, als ob es gar nicht da wäre.» Auf Schukows Tod hin schrieb Joseph Brodsky ein Gedicht, eines seiner besten. Der zukünftige Literaturnobelpreisträger lebte damals seit zwei Jahren im erzwungenen Exil, und der Tod des Marschalls führte ihm noch einmal die Kriegstragödie seiner Heimat vor Augen. Die Menschen in der Sowjetunion waren dem erbarmungslosen Aggressor Nazideutschland und zugleich ihrem eigenen unmenschlichen Staat ausgeliefert. Den ersten Feind vermochten sie zurückzuschlagen, vom zweiten wurden sie unterjocht. Selbst Schukow musste ständig damit rechnen, dass Stalin ihn wie viele andere Heerführer erschiessen lässt. Dieses russische Schicksal packte Brodsky in vier Gedichtzeilen: «Schlaf! Im Album der russischen Taten / fehlt's nicht an Seiten, der man gedacht, / die kühn sich in fremde Hauptstädte wagten, / doch klamm betraten die eigene Stadt.»

Die Angst war mehr als begründet. Schon zwei Wochen nach Kriegsende erklärte Josef Stalin das grosse russische Volk und dessen Führung zu Siegern. Die realen Soldaten – ob Russen, Ukrainer oder Juden wie mein Grossvater – passten dabei mit ihren Verletzungen und Traumata nicht ins verklärte Bild. Denn sie wussten, wie der Krieg und das Leben in Europa wirklich gewesen waren. Jene, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, wanderten direkt in den Gulag. Den anderen suspekten Heimkehrern wurde lediglich der gesellschaftliche Aufstieg erschwert. Und wer mit Behinderungen zurückkam, galt als lebendige Erinnerung an die Wahrheit des Krieges. Die Kriegsinvaliden entfernte man aus den Grossstädten, die meisten kamen auf die nördlichen Inseln, wo sie in Abgeschiedenheit auf den Tod warteten.

Der Feiertag des Sieges war in der Sowjetunion zwei Jahrzehnte lang kein arbeitsfreier Tag. Erst später, nachdem viele Soldaten des Zweiten Weltkrieges gestorben waren, begann der Kult um den «Grossen Vaterländischen Krieg». Uns Schülern wurde die Ehrfurcht für unser «Siegervolk» und seine glorreiche Regierung eingetrichtert. Offiziell beglaubigte Kriegsveteranen agitierten vor Schulklassen. Im Geschichtsunterricht studierten wir die Kriegsmemoiren von KP-Generalsekretär Breschnew. An allen runden Jahrestagen des Kriegsendes fanden in kleineren und grösseren Städten Militärparaden statt, in Moskau führte man sogar atomare Interkontinentalraketen auf dem Roten Platz vor.

 

«Nach Berlin!»

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hielt man sich mit Gedenkfeierlichkeiten zurück, doch schon während des Krieges in Tschetschenien wurden die Paraden wieder eingeführt, zuerst im Kleinformat. Marschall Schukow bekam ein Denkmal neben dem Kreml, und auf dem Roten Platz ließ man die alt gewordenen Kriegsveteranen aufmarschiren. Die schweren Tötungsmaschinen kehrten erst 2008 zurück. Seitdem wird die Militärparade in sowjetischem Ausmass jedes Jahr wieder durchgeführt.

Putin führt heute das zu Ende, was Stalin und Breschnew begonnen haben. Die Methoden der Manipulation sind indes subtiler geworden. Schon 2005 entwarf die Propagandaagentur RIA Novosti die Kampagne mit den «St.-Georgs-Bändchen». Hunderttausende schwarz-orange Bändchen wurden an Passanten verteilt oder an Autoantennen gebunden. Die Mitglieder staatstreuer Jugendorganisationen klebten auf ihre Heckscheiben den Schriftzug «Nach Berlin!», so wie er einst auf den russischen Panzern stand, die mit in Marschall Schukows Todesschlacht gezogen waren. Ursprünglich hatte das Bändchen zum St.-Georgs-Orden des Zarenreichs gehört. Die Aktion tarnte sich als spontane Volksbewegung, doch bald erschienen sogar die Moderatoren im Staatsfernsehen mit den Bändchen an der Brust. Seitdem wird die Kampagne jährlich mit grossem Pomp durchgeführt. Bis anhin sollen über 50 Millionen Bändchen auf Staatskosten hergestellt und verteilt worden sein. 2008 wurden sie für die propagandistische Begleitung des Krieges gegen Georgien eingesetzt, und heute sind sie das zentrale Emblem des Untergrund-Krieges gegen die Ukraine. Die prorussischen Kämpfer nähen sie auf ihre Tarnuniformen oder binden sie um die Gewehrläufe ihrer Kalaschnikows.

 

Verhökertes Leiden

Der propagandistische Missbrauch des Krieges geht in Putins Russland sogar noch weiter als in der Sowjetunion. Bis zu einem Jahr Zwangsarbeit steht auf die «öffentliche Diffamierung von Tagen der Kriegsehre». Das entsprechende Gesetz verabschiedete die Staatsduma bald nach der Annexion der Krim. Wer nach dem neuen Gesetz «Lügen» über die Aktionen der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs verbreitet, dem drohen bis fünf Jahre Haft. Wer also sagt, die Rote Armee habe Kriegsverbrechen begangen, wandert ins Gefängnis.

«Frauen, Mütter und ihre Töchter, liegen überall links und rechts der Strasse, vor jeder eine Armada lachender Kerle mit heruntergelassenen Hosen. Kinder, die ihren Müttern zu Hilfe eilen, werden erschossen. Und die Kommandeure stehen einfach auf der Strasse herum, manche grinsen, manche geben Anweisungen, damit wirklich alle ihre Soldaten drankommen. Ich spüre die Übelkeit hochsteigen», so erinnert sich der ehemalige Funkoffizier Leonid Rabitschew an den russischen Einmarsch in Ostpreussen. Ich frage mich, was mein Grossvater Lasar in dieser Situation getan hätte. Und hoffe, er wäre unter den gar nicht so wenigen Soldaten gewesen, die Marodeure und Vergewaltiger festgenommen haben. Aber Lasar war schon gefallen.

Heute soll der «Grosse Vaterländische Krieg», mit dessen Erbe der Kreml seit Jahrzehnten sein Regime rechtfertigte, den Krieg gegen die Ukraine legitimieren. Putin hat meinem Grossvater seinen Kriegstod gestohlen, als er die Ukrainer als «Faschisten» verleumden liess. Den Millionen damals Gefallenen wurde ihr Sieg über den echten Faschismus entrissen und an Halbstarke aus der Kreml-Jugend verhökert, die auf ihre Autos die Aufschrift kleben, «Opas Sieg ist mein Sieg».

Georgi Schukow verbrachte seinen Lebensabend im Exil auf seiner Datscha bei Moskau. Den Kreml-Bürokraten war er ein zu starker Konkurrent, deshalb hielten sie ihn auf Abstand. Joseph Brodsky stellte den Marschall als eine Figur von antiker Grösse dar. Wenn Schukow in der Hölle auf die von ihm geopferten Soldaten träfe, was würde er zu ihnen sagen? Bei Brodsky antwortet der Marschall lapidar: «Ich war im Krieg.» – «Der Krieg hebt alles auf», sagten die Soldaten selbst, und so betitelte Leonid Rabitschew seine Erinnerungen an die Kriegsverbrechen. Genau dafür braucht auch Präsident Putin den Krieg. Seine medialen Vollstrecker tönen: «Wir sind die Erben des grossen Sieges!», doch sie sind nur Diebe, die sich mit den Ordensbändchen toter Soldaten schmücken. Man hat Joseph Brodsky im Exil gefragt, warum er denn überhaupt einen Sowjetführer wie Schukow besungen habe, und dieser antwortete: «Dort gibt es einfach nicht viele, über die man überhaupt ein Gedicht schreiben kann.»


© »Die kleinen Diebe des grossen Sieges«  Neue Zürcher Zeitung, 9. Mai 2014   Kommentar

Published on  September 26th, 2023

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